Von der Turnerbewegung zur Wehrgymnastik

Es mag die im Vorkapitel angesprochen allgemeine Schlappheit gewesen sein, die Friedrich Ludwig Jahn im Frühjahr von 1810 veranlasste, Berliner Schüler an schulfreien Nachmittagen zu Jugendspielen und „einfachen Übungen” im Freien zu animieren. Mit dem Kern seiner so gewonnenen Anhänger eröffnete er ein Jahr später den ersten Turnplatz in der Berliner Hasenheide, von wo aus die deutsche Turnerbewegung zwar nicht ihren Anfang, aber doch ihren populären Fortschritt nahm.

Jahns Mitstreiter im Anliegen, die deutsche Jugend physisch auf Vordermann zu bringen, um sie für die körperlichen und geistigen Herausforderungen des Militärdienstes vorzubereiten, waren Ernst Eiselen (links abgebildet), mit dem zusammen er im Jahre 1816 Die Deutsche Turnkunst herausgab, und der Magdeburger Friedrich Friesen. Beide Turner verdienen Beachtung auch in Hinsicht auf ihre Einflüsse auf die Ausbildung des Deutschen Hiebfechtens.

Nach Jahn ist das Fechten „eine wesentliche Hauptübung, und zur vollständigen Turnerbildung ganz unentbehrlich. Dazu muss es nach deutscher Art [d.h., nach Kreußler’scher Methode] auf Hieb und Stich, und beides links und rechts getrieben werden.”

Frisch, fromm, fröhlich, frei: Jahn’scher Turner mit (Manschett-)Korbschläger

Der bis dahin übliche Fechtbetrieb ist Jahn jedoch ein Dorn im Auge. Insbesondere nimmt er Anstoß an der akademischen Tradition, eine auf den Zweikampf zugeschnittene und daher stark vereinfachte Form der Fechtkunst zu propagieren: „Es hat der Kunst als solche geschadet, dass sie als Selbsthilfe und Kampfschirm ausschließlich betrachtet wurde. So hat sich jeder besondere Kampfbrauch in die Kunst gemischt. (…) Durch Stichblätter wie Suppenteller, durch Sturmhüte, Riesenstulpen, Schlaghosen und Stiefeln wie Löscheimer ist sie an den hohen Schulen sehr ausgeartet.”

Ein Blick auf die studentischen Stammbuchblätter dieser Zeit bestätigt, dass Jahn hier insbesondere studentischen Usus des Stoßfechtens mit dem alten Tellerrapier aufs Korn nahm.

„Siegfriedgestalt von großen Gaben und Gnaden”

Obwohl Jahn selbst keine detaillierten Fechtübungen in seiner Deutschen Turnkunst einschließt, spielte insbesondere die Hiebfechtkunst im Pantheon der deutschen Turner bald eine besondere Rolle. Schlüsselfigur ist hier Friedrich Friesen, ein Lehrer an der Plamann’schen Anstalt (wo später auch Otto von Bismarck die Schulbank drücken sollte). Jahn beschreibt Friesen als „ein[en] aufblühende[n] Mann in Jugendfülle und Jugendschöne, an Leib und Seele ohne Fehl, voll Unschuld und Weisheit, beredt wie ein Seher; eine Siegfriedgestalt, von großen Gaben und Gnaden, den jung und alt gleich lieb hatte.”

Diese überschwängliche Beschreibung ist zum Zeitpunkt ihrer Entstehung bereits ein Nachruf auf den toten Freund: Friesen fiel am 15. März 1814 in Frankreich.

Nach Jahn war Friesen nicht nur generell athletisch bewandert, sondern auch „ein Meister des Schwerts auf Hieb und Stoß, kurz, rasch, fest, fein, gewaltig und nicht zu ermüden, wenn seine Hand erst das Eisen fasste.”

Bereits vor der Ankunft Jahns in Berlin war Friesen im Jahre 1808 an der Gründung einer Fechtergesellschaft im Rahmen der Märkisch-Berlinischen „Kammer” des Tugendbundes beteiligt. Ernst Eiselen, der als in der französischen Methode ausgebildeter Fechter dieser Gesellschaft beitrat, kommentiert:

“Dieser Fechtboden wurde bald und oft von Fechtmeistern und starken Fechtern aus allen Schulen besucht, wobei denn die Gesellschaft nicht ermangelte, alle diese fremden Arten zu prüfen und aus jeder das Beste anzunehmen. Friesen brachte das Ganze in eine Ordnung und stellte selbst diese neue Art auch am reinsten in der Ausübung dar.”

Diese Fechtgesellschaft löste sich 1812 vorübergehend auf und stellte ihre Räumlichkeiten den Jahn’schen Turnern zur Verfügung. Als Eiselen aber ein Jahr später krankheitshalber vom Militär ausgemustert wurde, nahm er den Fechtbetrieb umgehend wieder auf. Da sich die Deutschen Turner stark im Widerstand gegen Napoleon engagierten, litt der Fechtsaal in den Kriegsjahren allerdings weiterhin an Personalproblemen: Mitglieder leisteten begeistert ihren Militärdienst, welchen jedoch viele — so auch Friesen — nicht überlebten.

Das Fechten der Berliner Turnschule wurde in den ersten Jahren ausschließlich direkt von erfahrenen „Vorfechtern” auf Neulinge weitervermittelt, ähnlich wie sich auch das studentische Schlägerfechten seit 200 Jahren fortgepflanzt hatte. Erst im Jahre 1818 fasste Eiselen, der sich als von Friesen „eingeschlagen” bezeichnet, die schriftlichen Fragmente und die praktischen Anweisungen seines Lehrmeisters in einem kleinen Büchlein zusammen, das in kleinster Auflage publiziert wurde (Dieses Buch ist heute so selten, dass mir lediglich drei Exemplare davon bekannt sind). Durch die 1819 verhängte „Turnsperre” fand es zur Zeit seiner Veröffentlichung auch wenig Beachtung, bis es 1882 in Regie des Heidelberger Turn- und Kampfsporthistorikers Dr. Karl Wassmannsdorff neu verlegt wurde.

Nach den Freiheitskriegen wuchs die Zahl der Fechter wieder an: Im Jahre 1818 hatte Eiselens Fechtboden 30 voll ausgebildete Mitglieder und 60 Anfänger, wobei der Andrang so groß war, dass lediglich die mangelnde Räumlichkeit einer weiteren Ausweitung entgegenstand: Es konnten jeweils nur acht oder neun Paare von Fechtern gleichzeitig fechten. Die Übungen konnten zudem nur bei Tageslicht stattfinden, was gerade in den Berliner Wintern die zeitlichen Gegebenheiten stark kompromittierte.

Systematik

Warum einfach, wenn’s auch langatmig geht: Neue deutsche Terminologie zum Hiebfechten

Das „Einschlagen” durch Friesen und seine Vorfechter scheint jedoch nicht übermäßig komplex gewesen zu sein. Wassmannsdorff gibt an, dass Eiselen in den Monaten Februar und März 1812 ausgebildet wurde — eine für die Erlernung eines Fechtsystems extrem kurze Zeitspanne!

Im Sinne der dutschen “Kulturrevolution” bemühten sich Turner und Fechter, fremdsprachige Fachwörter durch deutsche Neuprägungen zu ersetzen. Ob diese notwendigerweise eine Verbesserung darstellten, sei dahingestellt. So benennt Eiselen die Hiebe nach ihrer Handposition. Aus der guten alten Hochterz wird ein „Hochkammhieb”, aus der Hochquart ein „Hochristhieb”, die Prim zum „Speichhieb”. Die verwendeten Waffen sind ein mit der modernen Paukglocke identischer „Hiebfechtel”, bzw. der vom Berliner Fechtmeister W. Lübeck entworfene „Bügelfechtel”, der das komplexe Bügelgefäß des Hiebes rigoros verknappte (Das Wort „Rappier”, bis dahin der akzeptierte deutsche Terminus für eine stumpfe Übungswaffe, war als Lehnwort natürlich zu „welsch”!).

Hauptcharakteristikum der Friesen-Eiselen’schen Methode ist jedoch das Schlagen der Hiebe aus den sogenannten „flachen Lagen” — welches der frühen Schlägerpraxis entlehnt ist (mehr dazu später) und im weiteren die Grundlage für das spätere Fechten aus der Verhängten Auslage bildet. Die Fechter dürfen die Mensur („das Maß”, d.h. den Fechtabstand) durch Vor- und Zurückweichen variieren. Ferner befürwortet Eiselen eine Schrägrichtung des Ausfalls. Die Hiebe selbst werden so ausgeführt, dass sie als Halbmesser eines Kreises mit Mittelpunkt im Zentrum der gegnerischen Brust gerichtet wurden. Dieses entspricht der bereits 1570 bei Joachim Meyer dargestellten Methode, die, auf den Kopf des Gegenpaukanten reduziert, identisch ist mit der „Einteilung des Kopfes als Scheibe” der modernen Schlägerpraxis.

Wie auch beim Schlägerfechten definiert Eiselen Deckung und Parade als synonym, wobei der Arm bei der Deckung wenig oder gar nicht aus der (flachen) Auslage bewegt wird. Ähnlich den Frühphasen des Schlägerfechtens wird eine Deckung allerdings reaktiv erst mit dem Angriffshieb des Gegners angesetzt. Die Ökonomie von Bewegung und Kraftaufwand erinnert an Liam Keeley’s Charakterisierung japanischer Schwertkampfsysteme:

„Meiner Meinung nach sind die wünschenswerten Eigenschaften eines effektiven Kampfsystems Effizienz der Techniken; Ökonomie der Techniken — alle überflüssigen Bewegungen werden vermieden; Knappheit der Techniken — die absolute Anzahl der Techniken ist sorgfältig begrenzt; und ein hoher Grad von Integration der Techniken innerhalb des Systems.”

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